Charlottenwalk Steffen Diemer | Galerie Albrecht

18/06/2021

Charlottenwalk 19.06.2021 Steffen Diemer
Galerie Albrecht, Bleibtreustraße 48 | Berlin

Galerienrundgang
Charlottenburg - Wilmersdorf

Mehr Präsenz und Sichtbarkeit für das vielfältige Kunstangebot der Galerien und Kunsträume im Kiez schaffen, die Vermittlung von Kunst fördern und Hemmschwellen unter Besucher*innen abbauen. Genau darum geht es beim Charlottenwalk – dem Galerierundgang in Charlottenburg-Wilmersdorf.

HARUKA USHIRO – FAR BEYOND
Steffen Diemer

May 28 – July 3, 2021

Als Fotograf ist Steffen Diemer Autodidakt. Auch niemand in der Familie, der den Jungen seinerzeit für das Medium begeistert hätte. Was Diemer erinnert, ist die Gärtnerei des Onkels. Da habe die Mutter gearbeitet, pikiert, also Keimlinge versetzt. Auch Steffen Diemer hat die Hände in die Erde gesteckt, ein Fingerbad im Torf genommen, hat den Humus gerochen. Er riecht ihn noch heute, was seine Affinität zur Natur erklären dürfte, seine Liebe zu den Pflanzen. Freilich sind es nicht nur Pflanzen, Früchte, 32 Pflanzenteile, denen seine Aufmerksamkeit gilt. Im Prinzip ist ihm alles, fast alles bildwürdig, sofern es sich in seine kleine Welterzählung fügt. Fotografierend stiftet Diemer nicht großes Theater, sondern Kammerspiele in Schwarzweiß. Bei ihm liegt in der Ereignislosigkeit das Ereignis, die Sensation in der betonten Schlichtheit der Darstellung wie des Dargestellten. Diemers Bilderwelt ist ein Gegenentwurf zur Aufgeregtheit des digitalen Zeitalters, ist visuelle Antithese zu einer bunt flimmernden Ikonografie, der zu entkommen kaum noch möglich ist.
»Lange Zeiten«, hat der bekannte Modefotograf Paolo Roversi einmal gesagt, »geben der Seele Gelegenheit sich einzufinden.« Steffen Diemer genügen im Schnitt anderthalb Minuten, um seinen Bildern so etwas wie Seele einzuhauchen. Das klingt nach Metaphysik. Aber der Rückgriff auf ein historisches Verfahren ist bei Diemer nicht handwerkliches Muskelspiel, sondern ein Mittel, Bilder der anderen Art zu generieren: »Große stille Bilder«, um einen Begriff des Medienwissenschafters Norbert Bolz zu zitieren. Diemers Schöpfungen sind wie der Blick durchs Schlüsselloch auf eine andere Welt, auf eine Welt, die auf frappante Weise in sich ruht. Fragt man ihn nach Einflüssen, nennt er den Tschechen Josef Sudek. Bohrt man tiefer, kommt man auf Japan, wo Diemer mehrere Jahre gelebt und gearbeitet hat. Die dort gesammelten Erfahrungen haben fraglos Spuren hinterlassen. Speziell die Bekanntschaft mit der Tuschemalerei eines Hasegawa Tōhaku blieb nicht ohne Wirkung. Reduktion, Einfachheit, die
Suche nach dem Wesentlichen sind Gebote, denen sich auch Steffen Diemer in seiner Arbeit unterwirft. Was Steffen Diemer liefert, ist nicht ausschweifende Prosa, sondern Poesie auf den Punkt gebracht, sind in ihrer Schlichtheit Haikus mit bildnerischen Mitteln. Formal setzt er auf partielle Schärfe, testet extreme Hoch- oder Querformate aus, spielt mit Kontrasten, arrangiert seine Objekte überlegt im Raum. Auch addiert er immer wieder Bildfolgen zu nachgerade filmischer Tableaus. »Fotografien hatten immer ein spezifisches Gewicht«, sagt Günter Karl Bose. Jedenfalls im analogen Zeitalter besaß der Abzug noch eine Grammatur, eine Haptik, eine Oberfläche, einen Rand: letzterer bei Diemer, dem Verfahren geschuldet, von einer speziellen Anmutung. In digitalen Zeiten mutiert das Bild zum entmaterialisierten Datensatz. Steffen Diemers objekthafte Schöpfungen dagegen wiegen schwer. Im doppelten Sinne. Sorgfältig gerahmt und bisweilen vor ausgesuchten Textilien montiert, haben sie Gewicht. Und sie haben Tiefe, überraschen in ihrem historischen Anderssein und stimmen nachdenklich, indem sie regelmäßig Grundfragen unserer Existenz tangieren. Steht nicht die Tulpe für Blühen und Vergehen? Das Ei für ein geformtes Ideal? Und die profanen Schokoküsse? Sind sie nicht Glück – ein kleines Glück für wenig Geld?
Hans-Michael Koetzle: Womöglich könnte man von Aura sprechen (Auszug). Aus: Steffen Diemer: haruka ushiro. Ausstellungskatalog Galerie Albrecht, Berlin 2021.